Von Marcel Mellor
2021 kommunizieren wir über einige wenige Apps, die nicht zueinander kompatibel sind — obwohl sie nahezu identische Funktionen bieten, gleich aussehen und die selbe technische Basis haben. Wie konnte das nur passieren?
Die Zukunft der Telekommunikation ist düster. Schuld daran sind genau die Apps, die anfangs wie ein Befreiungsschlag wirkten: Messenger. WhatsApp & Co. machten endlich Schluss mit altbackenen SMS und teuren Providertarifen. Sie schenkten uns kostenlose Video-Calls und Gruppennachrichten.
Aber moderne Messenger sind auch dafür verantwortlich, dass unsere Telekommunikation mit jedem Jahr antiquierter wird. Oder besser gesagt: dystopischer.
Um dies zu erkennen, hilft die Erinnerung an eine Epoche der Telefonie, mit der wir nur scheinbar nichts mehr gemein haben.
Ein Gespräch mit der Vergangenheit
Stellen wir uns vor, ein Zeitreisender aus dem Jahr 1921 käme zu Besuch. Nachdem wir ihm vom Internet, Corona, und dem Klimawandel erzählt haben, fragt er uns: “Wie kommuniziert ihr miteinander? Gedankenübertragung? Oder gibt es noch Telefone?”
“Natürlich gibt es noch Telefone. Wir telefonieren, schicken uns Sprachnachrichten und texten. Meistens texten wir.”
“Ach”, sagt der Zeitreisende. “Und wem gehören die Telefone und Leitungen? So jemandem wie Graham Bell?”
Wir lachen erstmal herzlich — die Vorstellung, dass ein einzelner Mann oder ein Staatsmonopol die Kommunikation eines ganzes Landes kontrolliert, ist herrlich aus der Zeit gefallen: “Nein, nein! Ich hatte Ihnen doch erklärt, wie das Internet funktioniert.”
Doch dann kommen wir ins Grübeln. Eigentlich wird ja der allergrößte Teil der weltweiten Mensch-zu-Mensch-Kommunikation — Chats, Anrufe und Sprachnachrichten — über eine Handvoll privater Unternehmen abgewickelt.
Facebook ist der Platzhirsch — die Hälfte der US-Bürger:innen verwendet den Facebook Messenger, im Rest der Welt hat Facebook’s WhatsApp die private Kommunikation übernommen. In Deutschland nutzen 80% aller Erwachsenen und Jugendlichen die App täglich (!). Genauso in Spanien, den Niederlanden und anderen Ländern Europas. In Indien hat WhatsApp 400 Millionen User — doppelt so viel wir vor zwei Jahren.
Messenger-Apps sind zu einem Grundpfeiler unserer täglichen Kommunikation geworden. Und gemeinsam haben diese Apps, dass sie nicht untereinander kompatibel sind. Sie schotten ihre User ab — mit voller Absicht und per Design.
Es existiert ein alternatives Modell: Telefonie. Die ist seit jeher netz- und plattformübergreifend. Aber was die Telkoprovider aus diesem Ansatz machen, wirkt mit jedem Jahr verstaubter. Wer will schließlich beim Telefonieren ernsthaft noch über Minutenpreise nachdenken? Oder ein Bild via MMS verschicken?
In Deutschland hat das Telefonieren über WhatsApp & Co. bereits die Festnetz-Telefonie überholt. SMS spielen in der privaten Kommunikation keine Rolle mehr. Besonders während der Pandemie wird so viel telefoniert wie lange nicht — aber über die großen Messenger¹.
Fazit? Unser Zeitreisender will es kaum glauben: 2021 kommunizieren wir entweder über eine Handvoll privater Internet-Unternehmen — oder über klassische Telkoprovider, deren Geschäftsmodell und Technologie völlig aus der Zeit gefallen ist. Die Zukunft der Telekommunikation hatte er sich anders vorgestellt.
Uns geht es ähnlich. Und wir fragen uns, wie das nur passieren konnte.
Kurze Geschichte der Telekommunikation
Am Anfang waren die Monopole.
Noch bis in die 90er hinein gehörten die meisten Telefonleitungen der Welt einem Monopol — meist einem Staatsmonopol, seltener einem privaten Unternehmen. Das bekannteste “natürliche Monopol” war AT&T. Der Telekommunikationskonzern kontrollierte jahrzehntelang nahezu alle Ferngespräche der USA und über Tochtergesellschaften auch einen Großteil aller anderen Gespräche.
Telefonmonopole wie AT&T hatten durchaus ihre Vorteile, sie investierten ihre hohen Margen nämlich in eine stabile Qualität und stetige Verbesserung. In ihren Laboratorien entstanden so regelmäßig bahnbrechende Erfindungen rund um die elektronische Kommunikation. Vom Wählfeld über Mobilfunknetze bis zum Transistor.
Die Königreiche dieser Monopole endeten erst an den jeweiligen Ländergrenzen, denn bei einem Auslandstelefonat mussten sie untereinander kooperieren. Die Telefongiganten des 20. Jahrhunderts schufen damit zwangsläufig Interoperabilität — die Fähigkeit von Systemen, auf Basis gemeinsamer Standards zusammenzuarbeiten.
Der Niedergang der Monopole begann an den Enden ihrer Leitung. Von Beginn an hatten kreative Startups überlegt, wie sie ergänzende Produkte zum Telefon verkaufen könnten. Der Gründer von Hush-A-Phone vertrieb ab 1921 klobige Plastikkappen, über die man „abhörsicher“ telefonierte, indem man die Kappe auf die Sprechmuschel klemmte. Was wie ein witziges Gadget klingt, fand AT&T keineswegs lustig. Das “natürliche Monopol” kündigte allen Haushalten, die Hush-A-Phone nutzten und leistete sich einen mehrjährigen Rechtsstreit (Hush-A-Phone vs United States). Hush-A-Phone gewann.
Was mit Plastikkappen begann, wurde zur Grundlage eines neuen Marktes: Telefoniezubehör. 1976 normte die US-Behörde für Kommunikation (FCC) einen neuen Standard für Steckverbindungen, den RJ-45/RJ-11-Stecker. AT&T-Kund:innen konnten darüber erstmalig die Telefone von Drittanbietern anschließen². Und nicht nur Telefone. Der „Westernstecker“ ermöglichte es Dennis Hayes, das erste Modem für die private Nutzung zu bauen. Ein oft übersehener, wichtiger Schritt auf dem Weg zum Internet.
Die neue Protokoll-Interoperabilität degradierte Telkoprovider zu bloßen Anbietern von Infrastruktur — zu Kabeln, die aus der Wand kamen. Provider waren weiterhin groß, aber jetzt genauso austauschbar wie Strom- und Wasserwerke. Die eigentlichen Innovationen fanden außerhalb ihres Einflussbereichs statt. Exponentiell beschleunigt wurde dieser Wandel durch eine Erfindung, die die Telkoprovider bis heute nicht begreifen: das Internet.
Das Internet ermöglichte auf Grundlage standardisierter Protokolle eine nie dagewesene Dezentralisierung. Jeder User kann das Netz erweitern, nicht nur mit eigenen Inhalten, sondern auch mit eigener Infrastruktur. Das Internet ist Post,Telefon und Fernseher zugleich, aber was es zusammenhält, sind Protokolle — nicht Provider. Es ist ein „globaler sozialer Raum“ ohne zentrale Kontrollen.
Wo sind wir mit dieser Vision gelandet? Ist Kommunikation endlich demokratisch, frei und unzensiert? Nicht ganz!
Der Traum der freien Kommunikation verkehrte sich innerhalb kürzester Zeit ins Gegenteil. Ein Großteil unserer digitalen Gespräche findet heute innerhalb einiger weniger Plattformen statt. Geschlossen statt interoperabel! Proprietär statt standardisiert! Und zentralisierter als es die Telkogiganten je waren! Heute texten und telefonieren wir über einige wenige Apps, die nicht zueinander kompatibel sind. Und das, obwohl sie nahezu identische Funktionen bieten, gleich aussehen und die selben Protokolle nutzen.
Wie verdammt ist das passiert?
Jedes Mediennetzwerk ist per Definition geschlossen. „Sprache kreiert Sprachnetzwerke, Schrift kreiert Schriftnetzwerke, Druck kreiert Drucknetzwerke³.“ Manche Netzwerke, allen voran die Sprache, sind so groß und so alt, dass wir sie nicht mehr als Netzwerk wahrnehmen. Aber sie existieren und sie schließen Menschen aus, die sie nicht benutzen können. Dabei gilt, je mehr Menschen das Netzwerk nutzen, desto nützlicher sind Produkte und Services innerhalb dieses Netzwerks. Ein Telefonanschluss wird umso wertvoller, je mehr Menschen ich damit erreichen kann. Das ist der sogenannte Netzwerkeffekt. Er sorgt dafür, dass Netzwerke ab einer gewissen Größe beinahe automatisch immer größer werden und konkurrierende Netzwerke verdrängen.
Jedes Netzwerk beruht auf dem Standard eines größeren Netzwerkes. Die Drucktechnik beruht auf Sprache und Schrift. Ein soziales Netzwerk auf den Standards des Internets. Twitter basierte in den Anfängen auf dem SMS-Standard, Gmail auf dem IMAP-Protokoll. Die Schrift, gedruckte Bücher und Twitter haben bestehende Standards erweitert und etwas Neues daraus geschaffen.
Netzwerke wie WhatsApp sind da anders. Auch sie nutzen Standards, aber sie erschaffen daraus nichts Neues. Ihr einziger Beitrag ist eine Mauer, mit der sie das Bestehende hermetisch abriegeln.
Natürlich wird niemand gezwungen, sich hinter diese Mauer zu begeben — theoretisch. Praktisch erzeugt der Netzwerkeffekt eine Zwangssituation. So wie in folgendem Beispiel: In einem fiktiven Land, das die Kfz-Zulassung privatisiert hat, bietet das Startup SecondLane eine App-basierte Zulassung an — und zwar zum Nulltarif. Die App ist ein Renner, die Userzahlen explodieren. SecondLane ändert natürlich nichts am Autofahren selber: man benötigt weiter einen Führerschein, fährt über die bestehenden Straßen und zahlt seine KfZ-Steuer. Mancher fragt sich, was denn eigentlich das Geschäftsmodell dieses App ist …
Die Antwort kommt mit den ersten SecondLane-Buslinien. Die Busse folgen bekannten Linienwegen, sind kostenlos — und exklusiv für User von SecoundLane. Kurz darauf baut SecondLane eigene Ausfahrten an Autobahnen, ebenfalls ausschließlich für User der App. Selbst wer bloß Beifahrer eines SecondLane-Users ist, benötigt einen Account. Restaurants und Geschäfte springen auf und lassen sich vom Unternehmen eigene SecondLane-Zufahrten bauen.
Nach wenigen Jahren kommt man ohne ein SecondLane-Konto nicht mehr von A nach B. SecondLane’s Geschäftsmodell basiert darauf, aufgrund der schieren Masse an Usern zum Gatekeeper und „unvermeidbaren Handelspartner“ (Monopson) für andere Unternehmen zu werden.
Das klingt zu recht dystopisch und ist exakt die Funktionsweise moderner Messenger-Apps. Sie bedienen sich ausschließlich an Bestehendem: die Telefonnummer ist ihre Nutzerkennung, das Adressbuch ihr Social Graph, das Internet ihr Netzwerk. Messenger-Apps haben existierende Standards zusammengesteckt und aus ihnen zentrale, geschlossene Plattformen gebaut. Und zwar aus einem einzigen Grund: weil sie Netzwerkeffekte erzielen wollen. Denn das ist die Basis ihres Wachstums und ihr Geschäftsmodell.
Dabei sind zentrale, geschlossene Plattformen nicht grundsätzlich schlecht. Sie haben ihre Berechtigung. Social Media-Plattformen wie Facebook oder Twitter als dezentrale Orte zu denken, fällt schwer. Soziale Netzwerke unterscheiden sich auch erheblich untereinander, sowohl in ihren Konzepten als auch in ihrer User Experience.
Anders bei Messengern. Um Textnachrichten von einer Person zur anderen zu schicken, braucht es keine geschlossenen, zentralen Plattformen. Das zeigen 150 Jahre Telekommunikationsgeschichte. Dafür geschlossene Plattformen zu schaffen wäre nichts weiter als ein aberwitziger Einfall … und dennoch ist es das Konzept aller modernen Messenger. Warum? Weil sie damit künstliche Netzwerkeffekte erzeugen und monetarisieren können.
In Deutschland nutzen alle WhatsApp. Ich auch. Nicht weil es die beste Messenger-App ist. Sondern weil es die App ist, die alle nutzen.
Es wird noch schlimmer
Um eines klar zu stellen: wir reden hier nicht über ein paar kleine Chat Apps. “Was verniedlichend „Chat“ genannt wird ist […] längst das wichtigste, digitale Interface der Zukunft”, sagt Sascha Lobo. Für Facebook sind „Privatnachrichten und kleine Gruppen der mit Abstand schnellstwachsende Bereich der Online-Kommunikation.“
2015 prophezeite der Analyst Benedict Evans einen Paradigmen-Wechsel: „Früher wurde Software größer und größer, bis sie irgendwann auch Messaging enthielt. Heute werden Messenger so groß, dass sie Software erhalten.“ Vor fünf Jahren schien das eine gewagte Einschätzung, die höchstens auf WeChat zutraf. 2020 ist sie Realität geworden. WhatsApp & Co. werden zur Haupt-App für alles. Sie integrieren Online-Shops und Bezahlsysteme, werden zu Support-Kanälen und Newsletter-Plattformen.
Eine Handvoll von Chat-Apps hat sich unvermeidbar gemacht, für Unternehmen jeder Branche und für private User. Hinter diesen Apps steht eine kleine Elite von Firmen, die keine Innovation der Welt vom Thron stoßen kann.
Ja, die Zukunft der Telekommunikation ist düster — wenn wir nichts tun. Denn wir haben die Technik und die Konzepte auf dem Tisch liegen, um künstlich geschaffene Netzwerke aufzulösen.
Welche Konzepte das genau sind und wie Alternativen funktionieren könnten, erkläre ich im nächsten Artikel.
Marcel Mellor ist Produktstratege, Science-Fiction-Autor und Blogger. Er arbeitet als Product Lead der mehrfach ausgezeichneten Telefonie-App satellite, Deutschlands erster und einziger App mit echter Handynummer. Er ist regelmäßig Speaker und Coach für die Themen Storytelling und Produktentwicklung.
Titelbild: ILO Historical Archives, Alan ILO 1927 195A, CC BY-SA 4.0
^1 Die Nutzung von WhatsApp steigerte sich beim Pandemiebeginn um etwa 40 %. Facebook gibt an, dass das Volumen von Minuten in Gruppenanrufen extrem angestiegen ist, in Italien etwa um 1000 %. Das klassische Telefonieren ist mit 10% deutlich weniger gewachsen.
^2 In Deutschland dauerte es noch ein wenig länger: zwar sollte schon 1988 die Nutzung alternativer Telefone erleichtert werden, aber die Bundespost weigerte sich, die dafür notwendigen TAE-Dosen zu verbauen. Erst das Eingreifen des BMWi brachte die Bundespost zur Raison.
^3 Poe, M. (2010). Media Causes and Media Effects. In A History of Communications: Media and Society from the Evolution of Speech to the Internet (pp. 1–25). Cambridge: Cambridge University Press. doi:10.1017/CBO9780511976919.002